Athletenkomitee der ISSF

  • Wie viele Sportverbände hat auch die ISSF ein Athletenkomitee. Bisher waren die 7 Mitglieder (die alles aktive oder ehemalige Kaderathleten sein müssen) jeweils anlässlich der Weltmeisterschaften von den TeilnehmerInnen geheim gewählt worden, da gab's irgendwo halbversteckt eine Urne (i.d.R. im Organisationsbüro) und wer wollte - es war immer nur eine Minderheit der SportlerInnen, denen die Vertretung ihrer eigenen Interessen wichtig war - konnte da hingehen, einen Stimmzettel in Empfang nehmen, ausfüllen und einwerfen.

    Die bisherigen Vertreter repräsentierten bereits einigermaßen die drei Hauptdisziplingruppen (2x Pistole, 2x Gewehr, 3x Wurfscheiben), einigermaßen die Geschlechter (4 Mäner, 3 Frauen, 0 erkennbar divers oder nicht-binär) und gar nicht die Erdteile (5x Europa, 2x die Amerikas, das war's). Der althergebrachte, jetzt aber energisch abgebaute Eurozentrismus der ISSF - der schon längst nicht mehr den tatsächlichen Leistungsverteilungen, und erst recht nicht den Potentialen des Sports entspricht - schimmerte da noch einmal auf. Vor den jetzigen war allerdings Abhinav Bindra im Komitee gewesen.

    Jetzt hatte eigentlich eine Neuwahl nach neuem (2022) und verändertem und ziemlich klugen ISSF-Wahl- und Besetzungsreglement stattfinden sollen;

    https://www.issf-sports.org/getfile.aspx?m…s-Committee.pdf

    Lisin und Ratner haben sich da Mühe gegeben, und demgegenüber schäumen die alten Tanten natürlich wie immer, wenn es etwas besser wird. Sobald mir "unser" deutscher Athletenvertreter auf meine Anfragemail geantwortet hat, gibt's ein Update.

    Carcano

  • OK, da sind also nur Spitzenkaderathleten mit vertreten. Und was ist mit den Zigtausenden, ja fast Millionen in der Pyramide weiter unten? Der sogenannten Basis?

    Das ist, als bestünde die Demokratie Deutschlands nur aus einer gewählten Auswahl der 50 reichsten Familien.

    Vielleicht ist das ja auch in Wirklichkeit so, dass diese reichsten Familien ja in Wirklichkeit die Berliner Schauspieltruppe bezahlen und leiten.

    Jeden Tag ´ne grüne Tat: Verbieten, was ein andrer mag!

    "Das Scheibenbild zeigt zum Schützen." (DSB Sportordnung 0.4.1.1)

  • Ich glaube, dass sowohl im IOC als auch in den Sportfachverbänden die Athletensprecher bzw. Athletenkomitees nur aus Vertretern des Leistungssports bestehen, i.d.R. also aktuelle und ehemalige Kadermitglieder. Natürlich kann man das auch hinterfragen.

    Übrigens gibt es eine starke Überdeckung zwischen offiziellen Athletensprechern in den Verbänden, z.B. im DOSB, und dem privaten Verein "Athleten Deutschland", der m.E. tolle Arbeit leistet.

    Gruß, Carcano

  • Genau das ist das Problem, dass immer nur an den Hochleistungssport gedacht wird und dieser maßgeblich für die Mittelverwendung ist.

    Die Anzahl der Olympia-Medaillen entscheidet über die Verteilung der IOC-Kohle auf die jeweiligen Landessportverbände, dito die Förderung durch den Staat und dann geht das Stufe für Stufe nach unten mit abnehmender Intensität.

    Für den Breitensport und die Gewinnung von blutigem Nachwuchs sind dann "die Vereine zuständig". Auch wir bekommen im Prinzip nur Förderung für unsere Landeskader. Hin und wieder fallen auch - eher aus Versehen - ein paar Brotkrumen für den Beginnerbereich ab (aber nur, weil wir genügend Landeskader in unseren Reihen haben. Bundeskader wären natürlich noch viel besser (hatten wir auch schon).

    Die Pyramide steht aber nun mal auf ihrer Basis - und wenn man diese weiter vernachlässigt, wird die Spitze immer mehr wackeln. Ist das Fundament kaputt, nützt auch ein neuer Dachfirst nichts.

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  • Lieber Califax,

    Dein durchdachter und wertvoller Einwurf verdient auf jeden Fall eine Antwort, eigentlich sogar zwei Antworten. Denn du sprichst in deinem Posting zwei zwar miteinander in Zusammenhang stehende, aber doch durchaus verschiedene Aspekte an.

    1.
    Soweit es die Rolle der Athletensprecher oder Athletenkomitees innerhalb der sportlichen Dachverbände betrifft, so gibt es gewiss eine Reihe von Sporthistorikern und Sportwissenschaftlern, die deren Entstehung und Entwicklung besser nachzeichnen können als ich, sogar viel besser. Das ist ein interessantes Thema der Sportsoziologie und zu einem gewissen Grad der Sportpolitik.
    Und da ja nicht alle Sportwissenschaftler Deppen oder praktizierende Doping-Experten sind, würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es über die Entstehung und die Wandlung solcher Athletenvertretungen bereits mindestens Bachelorarbeiten, vermutlich aber auch Masterarbeiten gibt, vielleicht auch schon Dissertationen.

    Soweit ich das überblicke, war der Grund der Entstehung derjenige, dass nach der Aufgabe des ohnehin immer schon tief verlogen und heuchlerisch gewesenen, und genau genommen auch insgesamt in der Menschheitsgeschichte nicht länger als 50 Jahre bestehenden Amateur-Paradigma, sodann die professionellen Sportler, die auch von ihrem Sport leben mussten, von den Spitzensportverbänden häufig als eine Art botmäßige Leibeigene oder gierige und gebührend zu knechtende Bittsteller behandelt worden waren und nicht etwa als zu respektierende und autonome Subjekte.
    Der autoritäre und manchmal brutale Gestus der Funktionäre alten Schlages gegenüber den Athleten, die doch von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung und Popularität des Sportes geworden waren und auch weiterhin sind, war wohl der Ausschlag für die Gründung derartiger Athletenkomitees oder -Vertretungen.

    Das mag erklären, warum sich dies im Bereich des Leistungssports abbildete. Die normalen vereinsangehörigen BreitensportlerInnen waren und sind ja theoretisch (nicht wirklich in der Praxis) im Rahmen der Vereins- und Verbandsdemokratie wahlberechtigt und hätten so natürlich über 4-5-6 Instanzen homöopathisch verdünnt irgendwie auch einen Einfluss auf die Verbandsleitungen ausüben können, was freilich weit mehr politiktheoretische Illusion als gelebte Realität war, das wissen wir beide. Darüber hat auch insbesondere Helmut Digel vor kurzer Zeit einmal ebenso knackig wie wahrheitsliebend geschrieben.
    Aber das könnte es erklären, warum etwa auf der Ebene der Landesschützenverbände kein eigenständiger „Sportler-Vertreter" in einem Präsidium sitzt. Und wer weiß, vielleicht ist dies auch schon in irgend einem Landesschießsportverband der Fall, und ich weiß davon nur noch nichts.

    2.
    Davon zu trennen ist die Frage nach der Sportförderung, und die ist ja sehr oft und auch schon sehr tiefschürfend und kontrovers diskutiert worden. Sie sollte auch hier im Forum immer wieder einmal gestellt werden. Sowohl einige Sportwissenschaftler, als auch insbesondere SportjournalistInnen haben die Sportförderung und ihre strukturellen Irrwege und Schwächen immer wieder öffentlich erörtert und auch zum Gegenstand des Medieninteresses gemacht.

    Zur der fatalen früheren Medaillen-Fixiertheit, welche du immer noch diagnostizierst (ich glaube aber, dass die eigentlichen heutigen Entscheidungsträger da schon etwas weiter sind und nicht allein auf irgendwelche runden Blechstücke an einem Bande schauen, sondern eher auf die ersten 8 oder 10 Plätze) und die fatale Fehlentwicklung, dass Mittel der öffentlichen Hand vor allem an die Spitzensportförderung gehen, wo sie aber eigentlich gerade nicht hingehören, während der Breitensport und Vereinssport, der viel eher aus öffentlicher Hand unterstützt und gefördert zu werden verdient, praktisch den Vereinen und Verbänden selbst überlassen wird. Gleiches gilt für die alberne und dumme Fixiertheit auf die "olympischen" Disziplinen. Aber da öffnet sich inzwischen sogar das IOK.
    Jeder nüchtern-neutrale außerirdische Besucher würde sich nach dem Aussteigen aus dem Raumschiff nur fassungslos die Tentakel raufen, und würde fragen, warum die Erdlinge so verquer und eigentlich kontrafaktisch agieren. Dazu kann und sollte man auf jeden Fall noch einmal separat etwas schreiben, denn in der Sache stimme ich dir da durchaus zu.

    3.
    In einem Punkte stimme ich Dir allerdings nicht so leicht bei. Es gibt ja eine ganz beliebte und gerne gepflegte Illusion, nämlich die Version von der Pyramide des Breitensports, von der aus sich dann immer schmaler zulaufend der Spitzensport systematisch aufbaut, wobei der Spitzensport diesen Unterbau der Massen also gut marxistisch gesehen als "Produktionsgrundlage" brauche.
    Aber in der Realität ist das Gegenteil der Fall. Ob das nun gut oder schlecht ist, habe ich nicht zu beurteilen, aber es ist einfach nicht so. Das ist eine brave Traumwelt aus Turnvater Jahns Zeiten.

    In Wahrheit kann man überall der Welt auf der grünen Wiese oder in der blanken Wüste mit genügend Geld sofort Spitzensport betreiben und kann innerhalb einer relativ kurzen Zeit, mit genügend Aufwand, Höchstleistungsathleten produzieren und zu bald internationalen Wettkämpfen entsenden. Das geht. Erforderlich ist ein autoritäres Regime einerseits, eine staatlich gelenkte Sportverwaltung andererseits (wobei die Objekte - sportelnde Menschen werden dort ja nicht als Subjekte gesehen – eben dorthin geschoben werden, wo die Talentdiagnostik sie verortet), und schließlich auch die Bereitschaft, viel Geld und nicht wenig Medikamente fließen zu lassen.

    Das gilt nicht nur für Bobfahrer, sondern auch und sogar vor allem für den Schießsport. Weniger das Doping, das ist bei uns relativ selten und wenn, dann sind es eher Beta-Blocker, aber sportliche Spitzenleistung gibt es auch dort, wo es kaum privaten Waffenbesitz gibt, oder wo aus anderen Gründen es praktisch keinen vereinsmäßigen Unterbau gibt.

    Ich kann dir innerhalb von zwei Jahren von 10 auf 100 z.B. in Kenia eine Reihe von Medaillen - und damit auch olympische Quotenplatzgewinner - bei den Afrikanischen Kontinentalmeisterschaften produzieren, das ist überhaupt kein Problem. Das Potential ist überall da, und es kann kurzfristig entwickelt werden. Wenn man das denn will.
    [Und wenn die Politik dafür das Geld hat, und nicht für andere Protzprojekte, etwa für eine wahnsinnig teure neue Normalspurbahn mit veraltetem chinesischem rollenden Material auf dem Stand der Siebzigerjahre (so in Kenia).]

    Bis zum nächsten Posting,
    herzliche Grüße,

    Carcano

    3 Mal editiert, zuletzt von Carcano (24. November 2022 um 17:32)

  • Carcano: Danke für das ausführliche und vielschichtige Posting,

    Der autoritäre und manchmal brutale Gestus der Funktionäre alten Schlages gegenüber den Athleten, die doch von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung und Popularität des Sportes geworden waren und auch weiterhin sind, war wohl der Ausschlag für die Gründung derartiger Athletenkomitees oder -Vertretungen.

    Das dürfe wirklich der Grund sein, also eine Art Betriebsrat. für die Sportprofis. Das verstehe ich.

    ... sondern eher auf die ersten 8 oder 10 Plätze)

    Ja, das weiß ich, hatte es nur ein wenig zugespitzt. Ist nämlich im Prinzip nichts anderes.

    In Wahrheit kann man überall der Welt auf der grünen Wiese oder in der blanken Wüste mit genügend Geld sofort Spitzensport betreiben und kann innerhalb einer relativ kurzen Zeit, mit genügend Aufwand, Höchstleistungsathleten produzieren und zu bald internationalen Wettkämpfen entsenden.

    Das stimmt. Zweifellos. Trotzdem braucht man auch für diese Methode geeignetes Grundmaterial. Bei den Läufern war es einfach: Der Afrikaner ist im Schnitt körperlich dem Europäer überlegen. Insbesondere, was die für das Laufen notwendigen Anlagen betrifft. Aber auch hier hat man erstmal ein Casting veranstaltet und nur die Besten der Besten ausgewählt, um sie zu Spitzendauerrennern zu formen. Mit viel Geld, viel Schweiß und harter Arbeit - und das Menschenmaterial ist, so sie aus Entwicklungsländern kommen, extrem motiviert und sicher auch gut führbar.

    Die Chinesen mit ihrem extrem hohen Menschenpotential, wie inzwischen auch die Inder, suchen sich auch aus den Massen der Kinder und Jugendlichen ihre künftigen Athleten raus. Auch hier sowohl hoher Anreiz, es zu etwas zu bringen und leichte Führbarkeit.

    Das funktioniert aber in Deutschland meiner Meinung nach nicht (mehr) so. Kaum ein Anreiz (außer bei Fußball - und hier dominieren dunklere Hautfarben inzwischen auch die deutschen Mannschaften) und extrem schlechte Führbarkeit. Spaßgesellschaft.

    Natürlich könnte man den Leistungssport komplett vom Breitensport abkoppeln. Aber was würde das bringen? Die Häme die "Die Mannschaft" nach ihrem desaströsen Versagen gegen Japan (!!!) abhören mußte, spricht da Bände. Dann sind nämlich die Olympia-Schützen nicht mehr "welche von uns", die man auch als Mensch treffen kann, sondern Aliens aus einer Parallelwelt.

    Diskussion lebt von unterschiedlichen Standpunkten. Jetzt freue ich mich auf deine Erwiderung.

    Jeden Tag ´ne grüne Tat: Verbieten, was ein andrer mag!

    "Das Scheibenbild zeigt zum Schützen." (DSB Sportordnung 0.4.1.1)

  • Das mag erklären, warum sich dies im Bereich des Leistungssports abbildete. Die normalen vereinsangehörigen BreitensportlerInnen waren und sind ja theoretisch (nicht wirklich in der Praxis) im Rahmen der Vereins- und Verbandsdemokratie wahlberechtigt und hätten so natürlich über 4-5-6 Instanzen homöopathisch verdünnt irgendwie auch einen Einfluss auf die Verbandsleitungen ausüben können, was freilich weit mehr politiktheoretische Illusion als gelebte Realität war, das wissen wir beide. Darüber hat auch insbesondere Helmut Digel vor kurzer Zeit einmal ebenso knackig wie wahrheitsliebend geschrieben.
    Aber das könnte es erklären, warum etwa auf der Ebene der Landesschützenverbände kein eigenständiger „Sportler-Vertreter" in einem Präsidium sitzt. Und wer weiß, vielleicht ist dies auch schon in irgend einem Landesschießsportverband der Fall, und ich weiß davon nur noch nichts.

    Sportlervertreter im Spitzenbereich sind meiner Ansicht nach sinnvoll weil kaum ein Sportler gleichzeitig auch die Tätigkeit als Funktionär in einem internationalen Verband ausüben kann, auch wenn es Ausnahmen gab und wohl auch noch geben kann. Das aktive Sportler Erfahrungen einbringen können von denen der Funktionär aus der Olympiamannschaft von 72 noch nichts gehört hat sollte verständlich sein.

    Der Breitensportler ist ja der der den Verein meistens trägt und somit in den Gremien vertreten ist. Bei den Schützen ist es ja nicht so dass Leistungsträger bei erreichen der Volljährigkeit, also dann wenn er für Ämter zur Wahl steht schon seinen Zenit überschritten hat und bei Athleten Deutschland kaum ein Wahlperiode lang noch mitarbeiten könnte.

    Wer sich als Vereinsmitglied nicht in notwendige vakante Ämter wählen lassen will braucht kein zusätzliches Amt dass dann auch wieder andere machen sollen.

    Davon zu trennen ist die Frage nach der Sportförderung, und die ist ja sehr oft und auch schon sehr tiefschürfend und kontrovers diskutiert worden.

    Das ist durchaus diskussionswürdig, aber bitte nicht auf Kosten anderer, also hier der Leistungssportler.

    Einmal sollten wir nicht vergessen dass alleine über den Anlagenbau, selbst wenn es nur der Keller in einem öffentlichen Bauwerk für den LG Stand ist durchaus Mittel auch für den Breitensport bereitgestellt werden. Wenn der Skilift als Stützpunkt für den Kaderausgebaut wird, nutzen den in der meisten Zeit die Touristen, also die Breitensportler.

    Was wir aber bestimmt nicht brauchen ist eine Vertretung der Breitensportler im internationalen Bereich nachdem in #2 anscheinend gefragt wird. Die haben meiner Ansicht nach viel zu wenige gemeinsame Ansprüche die von oben geregelt werden müssen.